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„Wenn ich alleine
im Auto saß, bekam ich
Todesangst“
читать дальшеManchmal kann man im Rampenlicht auch verbrennen:
Der Popstar Bill Kaulitz über die Abgründe seines
frühen Ruhms und seinen Neuanfang in Los Angeles
Herr Kaulitz, Sie sagen, das Schreiben
Ihrer Autobiografie sei beängstigend
gewesen. Warum?
Meine Band Tokio Hotel hat mich gerettet
und getötet – und das nicht nur einmal.
Mit 15 befreite sie mich aus der Enge meines ostdeutschen Heimatdorfs. Mit 18 war
ich dann der anscheinend unantastbare
Superstar, der ich immer sein wollte. Aber
abseits der Bühne fühlte ich mich taub und
ausgeliefert.
Was quälte Sie?
Mir war das Leben abhandengekommen.
Ich hatte Panik bei der Frage, ob ein anderes Leben neben Tokio Hotel überhaupt
noch möglich wäre. Das war teilweise
Terror, wie uns die Fans belagert und gejagt haben. Sie kamen aus Polen, Frankreich
oder Russland und kampierten in ihren
Kleinwagen vor unserem Haus. Sie haben
uns aufgelauert und uns manchmal einfach ins Gesicht oder zwischen die Beine
ge griffen. Irgendwann bewegte ich mich
keinen Zentimeter mehr ohne Bodyguard.
Wenn ich doch einmal alleine im Auto saß,
bekam ich Todesangst.
Wie ist das heute?
Neulich ist mir aufgefallen, dass die Beklemmung weiterhin nachhallt. Als ich
mit meinem Bruder Tom im Auto durch
Berlin fuhr, habe ich an der Ampel sofort
den Knopf für die Türverriegelung runtergedrückt. Nicht nur einmal, sondern
zwei-, dreimal. Bis Tom etwas genervt
sagte: „Entspann dich mal. Das Auto ist zu.“
Manchmal habe ich das Gefühl, ich verstehe erst im Rückblick, wie viel Angst ich
damals hatte.
Es gab Morddrohungen. Neben dem roten
Teppich lauerten Leute mit Messern,
die sich als Fans getarnt hatten. Plakate
vor der Bühne, auf denen „Kill Bill“ stand.
Mit 15 bekamen Sie Polizeischutz.
Ich erinnere mich, wie wir auf Einladung
des französischen Präsidenten im Sommer
2007 beim Nationalfeiertag auftraten.
Ein Open-Air-Konzert vor 500 000 Zuschauern vor dem Eiffelturm. Der Zenit
unserer bisherigen Karriere. Aber auf der
Bühne mit Blick ins Publikum dachte
ich: Da stehen jetzt vielleicht ebenso viele
Menschen, die mich töten wollen, wie
Zahnspangen-Mädchen, die über Sex mit
mir fantasieren.
Warum haben Sie sich das angetan?
Es wäre mir nie in den Sinn gekommen,
nach außen hin Schwäche zu zeigen. Das
hatte ich schon früh verinnerlicht. Niemals
eine Angriffsfläche bieten, sonst wirst du
von deinen Feinden niedergetrampelt.
Mit dieser Einstellung haben ich und mein
Bruder die Anfeindungen unserer Kindheit
überlebt. Das gleiche Muster hatte ich auf
unsere Karriere übertragen.
Bis irgendwann Ihre Stimme streikte.
Ich hatte zwei dicke Zysten auf den Stimmbändern. Ich bekam keinen Ton mehr raus.
Das passierte vor einem Konzert in Lissabon, wo 20 000 Fans auf uns warteten. Ich
fühlte mich wie ein Totalversager, der alle
anderen mit in den Abgrund reißt. Als ich
im Flugzeug zurück nach Deutschland saß,
dachte ich nur: „Bitte lass dieses Flugzeug
abstürzen, damit ich von dieser Last befreit
werde.“
Sie wollten sich das Leben nehmen?
Nein, niemals. Aber hätte es mich in diesem Moment gestört, mit einem Flugzeug
in den Tod zu stürzen? Nein. Der Druck,
dieses Multimillionen-Unternehmen Tokio
Hotel am Laufen zu halten, war extrem.
Wenige Wochen nach Ihrer Stimmbandoperation standen Sie wieder auf der
Bühne. Warum haben Sie Ihre Karriere
ohne Rücksicht auf Verluste weiterverfolgt?
Das hat viel mit unserem dritten Zwilling
zu tun: unserer Angst vor der Zukunft. Das
ist eine lebenslange Panik bei meinem
Bruder und mir. Wir denken: Wenn wir versagen, fängt uns niemand auf. Seit wir mit
15 berühmt wurden, fürchten wir uns
davor, wieder dorthin zurückzumüssen,
wo wir herkommen.
Sie sprechen von Loitsche, einem 600-
Einwohner-Dorf in der Nähe von Magdeburg. In Ihrem Buch beschreiben Sie es
als „ländliche Inzest-Idylle“ mit viel
Gewalt und Armut.
Ich mache keinen Hehl daraus: Ich habe es
dort gehasst. Wir lebten hart an der Armutsgrenze. In so einer kleinen Nachkriegsbaracke hinter einem Salzberg. Wir schämten
uns für unsere ärmliche Herkunft, weshalb
wir nie Freunde mit nach Hause brachten.
Klassenfahrten gab es für uns nicht. Das
Geld war zu knapp. Tom und ich fühlten uns
wie Außerirdische, die auf den falschen
Planeten geworfen worden waren. Auch weil
wir so anders aussahen als alle anderen.
Wie reagierten die anderen auf die Kaulitz-Zwillinge?
Die Mädchen liebten uns. Die Jungs wollten
uns verprügeln. Für die waren wir Freaks,
die aber ärgerlicherweise die hübschen
Mädchen ins Bett kriegten. Ich war zwölf,
als mich ein paar Jungs im Freibad in die
Dusche zerrten. Sie hielten meinen Kopf
unter den Wasserstrahl. Quetschten meinen Hoden und schrien: „Solche wie dich
wollen wir nicht haben, du Tunte.“ Der größte Triumph unseres frühen Erfolgs war es,
diesen feindlichen Ort auf einen Schlag und
für immer verlassen zu können.
Auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere
flohen Sie mit Ihrem Bruder nach Los
Angeles. Sie wollten dort klein werden,
wo andere hingehen, um groß zu werden.
In den ersten Wochen kam ich mir vor wie
ein Querschnittsgelähmter, der laufen
lernt. Stellen Sie sich vor: Mit Anfang 20
kannte ich jeden Flughafen dieser Welt,
aber hatte noch nie selber eingecheckt.
Und jetzt stand ich in einem Supermarkt.
Stand in einer Warteschlange. Das war neu.
So was kannte ich nicht. Jemand sprach
mich ohne Vorwarnung an, woraufhin ich
völlig erstarrte. Ich weiß, wie verrückt das
für andere Menschen klingt, aber dieser
stinknormale Alltag war ein großes Abenteuer. Es war ein geiler Trip, plötzlich normal zu sein.
Ein anderer Trip war es, Ihre verpasste
Jugend nachzuholen. Bei einem Ausflug
nach New York probierten Sie zum ersten
Mal Kokain.
Ich habe das Nachtleben ausgekostet, aber
es nie übertrieben. Es gab keinen Morgen,
wo ich mir an den Kopf fasste und dachte:
ab in die Betty-Ford-Klinik!
Viele Teenie-Stars sind tief gestürzt.
Dafür bin ich zu selbstkontrolliert. Außerdem machen Drogen hässlich. Und das ist
für mich immer noch der wichtigste
Grund, niemals abhängig zu werden.
Als Sie jünger waren, wurde viel über Ihre
Sexualität gerätselt.
Das hat sich heute glücklicherweise erledigt. Ich hatte Beziehungen mit Männern
und mit Frauen. Beides war aufregend.
Hat es Sie genervt, dass immer so ein Bohei um Ihr Liebesleben gemacht wurde?
Ich habe das gehasst! Während mein Bruder früher reihenweise Groupies flachlegte, durfte ich nicht ein Wort über Sex
verlieren. Niemals öffentlich eine Freundin haben, geschweige denn einen Freund.
Das hat mir mein Team eingehämmert. Die
sagten: Die Magie würde verloren gehen.
Und damit natürlich auch der Erfolg. Es
durfte auch keine Fotos von mir beim
Schminken geben. Ich sollte wie ein Fabelwesen wirken, das bereits morgens so aus
dem Bett steigt.
Warum wird ein Fabelwesen für viele
Menschen zum Hassobjekt?
Das hat Heidi (Klum, die Frau seines Bruders
Tom, Anm. d. Red.) uns auch mal gefragt. Sie
kannte Tokio Hotel nur aus der Ferne, weil
sie auch damals lange in Amerika gelebt
hat. Als sie ein paar Aufnahmen sah, wo
uns Flaschen und andere Dinge um die
Ohren fliegen, fragte sie völlig entgeistert:
Warum tun die Leute das? Warum bewirft
man so süße kleine Kinder mit Müll und
buht sie aus? Wer tut so etwas?
„Männer hassten mich, weil sie verunsicherte, wie hart sie in der Hose wurden,
weil ich hübscher aussah als ihre verloderte Freundin zu Hause“, schreiben Sie.
Das mag provokant klingen. Aber so war
das. Es gab viele heterosexuelle Männer,
die mich sexy fanden. Ich bin superhart
an der Kante längs geschliffen. Es gibt alte
Bilder von mir, bei denen ich heute denke:
Wenn ich da jetzt noch Brüste hätte, könnte ich auch nicht mehr sagen, ob das ein
Mann oder eine Frau ist. Dieser Look
wurde mit der Zeit immer extremer. Drei
Stunden jeden Tag, ein halbes Dutzend
Leute, die an mir herumfummeln und
-kleben – das war nötig, um mich zurechtzumachen.
Wann kam der Moment, an dem Sie
diesen Anblick im Spiegel leid waren?
Das ging relativ schnell, nachdem ich
nach Los Angeles gezogen war. Dort kannte mich kaum jemand. Aber die Leute auf
der Straße schauten mich trotzdem oft
fragend an. Niemand wartete hier auf dieses schmächtige Männlein mit schwarzer
Mähne und großen Kajal-Augen. Ich
dachte: Warum mache ich mir eigentlich
so einen Stress? Heute brauche ich nur
20 Minuten im Bad, was mich extrem
entspannt hat.
Ihr Hang zum Luxus ist geblieben. Der
Inneneinrichter kommt aus Italien, der
Teppich aus Paris. „Downsizing“ bedeutet, dass Sie sich zwischenzeitlich
mit einer Wohnfläche von 130 Quadratmetern begnügen.
Woher kommt bloß diese Obsession, dass
wir immer nach Geld gefragt werden? Zwei
Rotzlöffel aus dem Osten, die Kohle haben.
Das hat anscheinend immer viele Leute aufgeregt. Ich finde das seltsam. Rammstein wird
nie nach Geld gefragt.
Vielleicht liegt das einfach daran, dass Sie
Ihren Reichtum nie versteckt haben. Was
bedeutet Ihnen Geld?
Geld bedeutet für mich vor allem Freiheit.
Manche sagen: Das Schönste ist, wenn man
nicht mehr über Geld nachdenken muss. Das
stimmt. Aber leider ist dieser Moment bei uns
nie eingetreten.
Dabei haben Sie doch mit Tokio Hotel mehr
als zehn Millionen Platten verkauft. Haben
Sie nicht schon lange ausgesorgt?
Das kommt ganz auf das Leben an, das man
führen möchte. Es gibt doch diesen berühmten Rapper aus Berlin, der 30 Prozent seiner
Einnahmen an einen Clan-Chef abdrücken
musste. Das galt als ein großer Skandal.
Darüber kann ich nur lachen. Uns wurde
teilweise mehr als das Doppelte abgeknöpft.
Seitdem unser Sklavenvertrag, den wir als
Teenager unterzeichnet haben, vor ein paar
Jahren ausgelaufen ist, verdienen wir weitaus
mehr Geld als damals.
Ihr Bruder Tom sagte mal über Ihr Verhältnis:
„Wir beide sind uns so nahe, dass ich eigentlich niemanden brauche – außer für Sex.“
Diese Aussage lässt seine Beziehung mit
Heidi Klum in einem neuen Licht erstrahlen.
Das ist schon lustig, oder? Eigentlich war ich
immer der große Romantiker. Und Tom der
abgebrühte Lebemann. Liebe, heiraten, Familie, das war früher alles Quatsch für ihn. Man
schläft einmal mit jemanden, danach verliert
man das Interesse. Jetzt ist es bei uns genau
andersherum.
Wenn Sie beim Ausgehen in Los Angeles jemanden kennenlernen, der Sie interessiert:
Wie stellen Sie sich vor?
Ich sage, dass ich Bill bin und in so einer Band
namens Tokio Hotel singe. Kennen viele dann
natürlich nicht. Wenn jemand mich googelt,
kommt natürlich sofort die Frage: Was, dieses
Männlein mit den Kajal-Augen? Bist das wirklich du?
Ernten Sie dann auch gierige Dollar-Blicke?
Das passiert. Aber die meisten sind eher überfordert. Meine längste Beziehung dauerte
knapp drei Jahre. Ein Mann aus L. A., der heute
eine Frau und ein Kind hat. Als wir noch
zusammen waren, hat er mich mal nach
Deutschland begleitet. Das hat ihm Angst
gemacht, wie viel Aufmerksamkeit mir
dort entgegenschlug.
Der Sänger Robbie Williams lebt seit
2002 in Los Angeles. Er sagte: „In einem
Gefängnis bist du dazu verdammt, deine
Zellengenossen zu vögeln.“
Ich wollte das nie glauben. Aber wahrscheinlich ist das so. Ich sehe das bei Heidi
und Tom. Es gibt da einfach ein tieferes
Verständnis füreinander, wenn beide Partner berühmt sind.
Nach dem Scheitern Ihrer Beziehung bestellten Sie sich zum Trost einen Escort
aufs Hotelzimmer. Warum bezahlt ein
umschwärmter Popstar wie Sie für Sex?
Ich habe so viele Freunde, die sich schon
mal Sex gekauft haben. Aber irgendwie
scheint das immer noch ein Tabu zu sein.
Ich habe das auch mal ausprobiert. So
what? Ist das jetzt ein Moment, auf den ich
besonders stolz bin? Nein. Aber so was
gehört auch zum Leben dazu.
Was, wenn sich der Escort-Mann als Fan
entpuppt hätte?
Die Sorge hatte ich auch. Deshalb checkte
ich meine Verabredung vorher mit Fragen
ab. Wie: „Magst du deutsche Musik?“, oder:
„Warst du schon mal in Europa?“ Im Hotel
benutzte ich einen Decknamen. Das Zimmer bezahlte ich mit einer aufladbaren
Kreditkarte aus dem Supermarkt. Den ganzen Mist hätte ich mir aber sparen können.
Nach dieser Nacht fühlte ich mich noch
einsamer und elendiger als zuvor.
Sie wirken wie jemand, der viel zu sehr
von sich selbst beansprucht ist, um sich
einem anderen Menschen zu widmen.
Es gibt Menschen, die in Beziehungen stecken, weil sie schreckliche Angst vor dem
Alleinsein haben. Das käme mir niemals
in den Sinn. Seit mein Bruder mit Heidi
verheiratet ist, lebe ich zum ersten Mal in
meinem Leben alleine. Es macht mir fast
ein bisschen Angst, wie gut ich im Augenblick damit klarkomme. Weil ich abseits
der Bühne immer noch kein richtiges
Privatleben habe. Ich liebe eigentlich nur
diese Band, die Musik, die Bühne. Dafür bin
ich hier. Und damit bin ich noch nicht
fertig. Ich suche noch den Knopf, um den
Popstar Bill Kaulitz auszuschalten.
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