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Bill Kaulitz: Was ist heute wirklich männlich?Tokio Hotel-Sänger Bill Kaulitz spricht mit Bärbel Schäfer über Männlichkeit, Mut und seine neue Biografie.
читать дальшеBill Kaulitz widmet seine Biografie den Mutigen
Als Tokio Hotel weltweit die Mädchen zum Kreischen brachten, war Bill Kaulitz selbst noch ein Teenie – und scherte sich nicht darum, was andere von ihm hielten. Jetzt blickt er mit zarten 31 Jahren aufs Leben zurück. Was er vorhat? Seinen Mut wiederfinden. Den aus den Anfängen mit der „unschuldigen Scheiß-egal-Haltung“ Seine Biografie heißt „Career Suicide“. Bill Kaulitz hat sie den Mutigen gewidmet. Auch weil er Angst kennt, sogar vor Fans. Sein Zwillingsbruder Tom und er mussten sich mal wochenlang zu Hause verschanzen, weil sie so belagert wurden. Wir sprechen über Druck, Hypes – und darüber, was der 31-Jährige heute über Männlichkeit denkt. Die Stereotype hat er schon als Teenager herausgefordert.
Bärbel Schäfer: Ist der Erwartungsdruck beim Buch so hoch wie bei einem neuen Album?
Bill Kaulitz: Alle sind krass aufgeregt. Tom schläft seit Tagen unruhig. Mein Manager hat seit Wochen Albträume. Die Abläufe bei meinen Fashionshows kenne ich, wie man ein Album released weiß ich – beim Buch ist alles neu.
Als Erwachsener musst du dauernd daran arbeiten, deinen Mut nicht zu verlieren.
Bill Kaulitz
Bandarbeit ist Teamarbeit, Schreiben ist einsam. Fiel dir das schwer?
Schreiben ist das Einzige, was ich in der Schule mochte. Aber das war jetzt was anderes als Songschreiben, wo ich mehr vertuschen kann. Das Buch ist ehrlicher, das Schreiben ging mir sehr nah.
Was hat dich erwischt?
Ich bin eingetaucht in unsere Zeit vor dem Hype. Tom und mein Elternhaus, die Familie, die Trennung unserer Eltern, da habe ich mich an Sachen erinnert, die sogar meine Mutter überrascht haben, unser Leben mit Stiefvater ... das war wahnsinnig intim. Über aktuellere Ereignisse zu schreiben, fiel mir schwer. Da habe ich gemerkt, wie unreflektiert die letzten Jahre für mich noch sind.
Du erzählst, wie das öffentliche Leben Alltag oft für euch unmöglich gemacht hat – und jetzt gibst du noch mehr Privates preis. Warum?
Das hat mein bester Freund auch gesagt: „Du machst dich nackt, willst du das wirklich?“ Aber ich reiße meine Schutzmauer bewusst ein. Ich will mit der Biografie ein Risiko eingehen. Vielleicht nicht die cleverste Entscheidung, wenn man noch aktiv im Musikbusiness ist, aber Halbgares liefere ich nicht ab.
Das Buch ist den Rebellen gewidmet. Wann war deine rebellischste Phase?
Mit 15 bis 17, als wir ins Musikbusiness reingerotzt wurden. Da wollte ich kein Nein akzeptieren. Dazu der Mega-Erfolg – wir waren schwer zu händeln. Danach bin ich in die geduckte Phase gefallen, in der ich bloß nicht auffallen wollte.
Wo können Teenager heute rebellieren?
Frei zu sein ist heute schwer. Unter dem Druck von Likes und Kommentaren wollen Kids unbedingt gefallen. Um meinen eigenen Weg zu finden, musste ich gegen meine Mitschüler aus unserem Kaff in Loitsche bei Magdeburg ankämpfen, heute kämpfen die Kids gegen eine ganze Social Media Community.
Ist die Bühne noch immer ein guter Ort für dich, um anders zu sein?
Absolut. Ohne die Bühne würde ich eingehen. Performen fehlt mir gerade sehr.
Was gibt dir die „Droge“ Bühne?
Entspanntheit. Kleinere Settings, etwa ein privates Abendessen, strengen mich mehr an. On stage fällt alles von mir ab, da fühle ich mich zu Hause.
Mitte der 2000er-Jahre haben euch jeden Abend 20.000 Leute gefeiert. Wie war das?
Wie ein Tunnel! Wir haben nur versucht, da jeden Tag durchzukommen. Heute kann ich das ganz anders genießen. Mit sechzehn habe ich gar nicht kapiert, wie viel unsere Musik den Menschen bedeutet. Ich konnte diese ganze Liebe damals gar nicht annehmen.
Eure Mutter hat euch mit 20 zur Welt gebracht, da hatte sie keine finanzielle Sicherheit, keinen Job – was hat sie dir mitgegeben für dein Leben?
Liebe und Vertrauen. Bei uns gab es Ehrlichkeit und keine Geheimnisse. Wir kannten keine Bestrafungen oder Fernsehverbote und hatten nie Angst, etwas zu erzählen. Urvertrauen und Verständnis füreinander waren selbstverständlich. Anstand und Respekt für andere hat sie uns mitgegeben. Meine Mutter ist tough, aber keine Businessfrau.
Ihr hattet früh den Wunsch nach Freiheit. Von der Bushaltestelle in Magdeburg raus ins Leben. Mit welchem Ziel?
Nur weg! Berlin war für mich damals, wie einmal um den ganzen Planeten. Ich wusste nicht mal, wie man dahin kommt. Ich wusste, es gibt „mehr an Leben“, aber wo genau das war, wusste ich nicht.
Bist du der geworden, von dem du als Kind in Loitsche geträumt hast?
Ab und zu schaue ich in den Spiegel und stelle mir genau diese Frage. Rückblickend ist alles so gekommen, wie Tom und ich es uns ausgemalt haben. Wir saßen mit dreizehn in Hamburg in einem Loft und wussten, so eine geile Wohnung mit Skyline-Blick, die wollen wir auch mal haben. Heute schaue ich aus meinem Haus auf die Skyline von L.A.
Und wie ist es, wenn du sie erreichst, deine Ziele?
Haken dran und weiter. Keine Entspannung, kein Zurücklehnen.
Zu Beginn unserer Karriere war ich am mutigsten. Ich hatte nichts zu verlieren.
Bill Kaulitz
Glück gehabt? Pläne und Erwartungen erfüllen sich ja nicht immer.
Meine Mutter hatte schon früh begonnen zu recherchieren, was sie mit uns machen soll, wenn wir es bis zum Abi an der Schule nicht aushalten würden. Es war klar, dass wir vorher wegwollten. Und Glück gehört auf jeden Fall dazu, aber mir ist im Leben nichts zugefallen.
Die Demütigungen durch die Mitschüler, das Herabwürdigen durch Lehrer, nur weil du Nagellack und schrille Outfits getragen hast, taucht das in deinen Träumen noch auf?
Absolut. Ich trage im realen Leben eine Menschenangst in mir. Wenn ich viele Leute auf einem Haufen sehe, bei Aggressionen, wenn Alkohol im Spiel ist, jemand die Stimme erhebt, wenn ich allein unterwegs bin und man meinen Namen laut ruft, werde ich wieder der kleine Junge, dessen Herz bis zum Hals schlägt. Ich wollte mir nie wieder im Leben etwas wegnehmen lassen, mich einengen oder zerstören lassen. Ich wollte die Kontrolle über mein Leben zurück, auch nach dem Tokio-Hotel-Hype wieder selbstbestimmter, freier leben. Das ging nur mit unserem Umzug nach L. A.
Wann ist der schlaksige Junge mit den geschminkten Augen, der Frontmann von Tokio Hotel, erwachsen geworden?
Immer noch nicht richtig. 31 Jahre alt zu sein, erscheint mir unwirklich.
Bei deinem Look wechselst du zwischen maskulinem und femininem Vibe.
Ich lebe in fließenden Übergängen. Wenn ich keine Lust auf Schmuck habe, ist mein Look rough und männlich. Am nächsten Tag habe ich plötzlich Lust auf einen pinken Jumpsuit. In den USA habe ich aufgehört mich zu schminken, meine Haare zu stylen, ich verzichte da auf die Kunstfigur. Das wechselt dann wieder mit dem Wunsch nach aufwendigen Kostümen und hohen Schuhen.
Fühlst du dich heute ohne Make-up noch nackt und ungeschützt?
Nee. Aber auf der Bühne, bei Shootings, auf Tour liebe ich es, mich morgens wirklich zurechtzumachen. Aufstehen, schnell irgendeine Trainingshose an und dann ab vor die Kamera – der Typ bin ich einfach nicht.
Was ist Männlichkeit für dich?
Diese Schubladen sind schwierig. Für mich existieren sie nicht, und die Übergänge sind fließend. Mut ist wichtig. Bei vielen Männern aus meiner Branche und meiner Generation wünschte ich mir, die hätten mehr Eier. Viele kleben noch an den alten Macho-Klischees.
Das heißt, Männer müssten sich von der Männlichkeit emanzipieren?
Genau, sich von dem typischen Männlichkeitsbild zu lösen, ist eine Aufgabe für viele Männer.
Wer waren deine Vorbilder in puncto Männlichkeit?
David Bowie, Prince vom Look und Auftritt her. Mein Stiefvater Gordon war ein musikalisches Vorbild. Aber ich habe mir immer einen Vater in einem Sessel gewünscht, zu dem ich hingehen kann und der mir kluge Ratschläge gibt zu Geldanlagen oder den ersten Whisky mit mir trinkt. Diese Papa-Person, die ich um einen schlauen Rat fragen kann, wenn ich mal nicht weiterweiß, gab es nie für Tom und mich.
Ihr wart lange 24/7 zusammen. Fehlte dir durch euren Zwillings-Kokon nicht ab und zu eine andere Inspiration?
Das kann sein. Wir sind auch heute noch genauso eng, man kommt auch nur schwer dagegen an. Wir waren immer zu zweit und wussten auch oft alles besser (lacht). Tom war aber fast immer in Beziehungen, wir haben also auch Nähe zu anderen zugelassen.
Geschwister kennen verletzliche Punkte besonders gut. Wie eng liegen Lieben und Hassen bei euch zusammen?
Tom und ich können nicht länger als zehn Stunden sauer aufeinander sein. Ich hatte Momente, da war ich mir 100 Prozent sicher, ich schneide ihn aus meinem Leben, morgen ist es vorbei mit uns! Zwei Stunden später ruft Tom an und fragt: „Bill, was hast du zum Essen bestellt?“ (lacht). Wir sind eineiig, wir können nicht anders. Wie nehmen uns oft nicht als unterschiedliche Menschen wahr. Tom und ich fühlen alles zusammen. Oft bestellt nur einer von uns das Essen, weil er genau weiß, dass der andere das Gleiche essen will.
Wie geht es dir ohne Tom?
Zum ersten Mal leben wir nicht mehr zusammen. Ich komme jetzt nach Hause und da ist – niemand. Sich abzunabeln und Tom den Freiraum zu geben, ein Ehemann und Stiefvater von vier Kindern zu sein, ist wichtig, aber noch ungewohnt für mich.
Wenn eines der Kids von Heidi Klum auszieht, darfst du vielleicht in das freie Kinderzimmer einziehen!
(Lacht) Das hätte Tom bestimmt gerne.
Bei vielen Männern aus der Branche wünschte ich, die hätten mehr Eier
Bill Kaulitz
Können Songs Lebenswunden heilen?
Klar, wenn ich mir meinen Schmerz über eine schlimme Beziehung von der Seele schreibe, tröstet mich Musik.
„Career Suicide“ ist den Mutigen gewidmet. Bill, bist du heutige mutiger als zu Zeiten von „Durch den Monsun“?
Nee. Zu Beginn unserer Karriere war ich am mutigsten. Ich hatte nichts zu verlieren und eine unschuldige Scheiß-egal- Haltung. Da, wo ich herkam, gab es nichts zu verlieren. Ich habe alles auf den Tisch gepackt und hatte keine Angst vor nichts. Mit dem Erfolg wurde ich ängstlicher. Ich kämpfe mich heute dahin zurück, wieder mutig zu sein. Als Erwachsener habe ich plötzlich Höhenangst, Flugangst und denke dauernd: Sind auch bloß alle aus der Familie sicher? Als Erwachsener musst du dauernd daran arbeiten, deinen Mut nicht zu verlieren.
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