Im neuen Video zum Berlin-Song "Boys Don't Cry" trägt der 28-jährige Sänger Perücke und Lippenstift. Im Interview mit queer.de erklärt er, wie es dazu kam.
Von Micha Schulze
Über ein halbes Jahr nach dem Erscheinen eures letzten Albums "Dream Machine" wurde jetzt ein Video zu "Boys Don't Cry" veröffentlicht, in dem du in Drag zu sehen bist. Sollen Fans und Medien jetzt nicht nur über deine sexuelle Orientierung, sondern auch über deine geschlechtliche Identität spekulieren?
читать дальшеIn dem Song geht es in erster Linie um das Gefühl der Freiheit, um die Einstellung, dass man sich selber glücklich machen kann. Das Wichtigste, um glücklich zu sein, ist sich daran zu erinnern, dass das Leben total geil sein kann. Der Mann, dessen Rolle ich im Video übernehme, hat sich befreit. Er kann auch eine Frau sein und tanzen gehen in der Disco. Im Video sind übrigens keine Schauspieler dabei, wir haben da mit Freunden wirklich gefeiert. Die meisten Aufnahmen sind Momentaufnahmen.
Wir haben dich auf queer.de vor knapp fünf Jahren schon mal als "Miniversion von RuPaul" bezeichnet, hast du die oberste Drag-Mama in deiner Wahlheimat L.A. mal getroffen?
Nein, ich habe leider auch die Show noch nie gesehen. Ich habe gehört, dass sie total lustig ist
Schau dir "Ru Paul's Drag Race" unbedingt an! War es denn dein allererster Auftritt so richtig in Drag?
Ja. Natürlich sind meine Kostüme auf der Bühne auch wahnsinnig krass, mit hohen Schuhen, das ist nicht ganz so weit weg. Aber mit Perücke, Lippenstift, Handtasche und Pfennigabsätzen – das war eine Premiere. Das Schminken hat auch sehr lange gedauert, allein schon das Rasieren.
Musikalisch habt ihr euch seit "Durch den Monsun" komplett neu erfunden, doch das Spiel mit den Geschlechterrollen ist geblieben. Ist das die Konstante bei Tokio Hotel?
Ja, es geht für mich, wie gesagt, um ein Lebens- und Freiheitsgefühl. Da bin ich auch die tragende Kraft dahinter. Das Visuelle ist mir sehr wichtig, Mode und Musik gehören für mich zusammen. Ich bin froh, dass ich diesen Job habe und so rumlaufen kann wie ich will. Ich bin nicht der klassische Singer/Songwriter, der da mit einer Gitarre rumsitzt, für mich ist es immer eine Show, eine Performance.
In unserer Plattenkritik zu eurem vorletzten Album "Kings of Suburbia" haben wir uns gefragt, ob es sich bei diesem Spiel mit den Geschlechterrollen allein um PR, um ein dezentes Outing oder um Selbstironie handelt. Was stimmt denn?
Es ist einfach authentisch. Ich habe noch nie versucht, gezielt irgendein ein Image zu kreieren. Für mich ging es immer nur darum, frei zu sein und als Künstler das zu machen, worauf ich Lust habe. Da eckt man natürlich auch mit an. Manche Securitys in Russland waren ziemlich geschockt, als sie mich im Glitzeroutfit und mit hohen Schuhen sahen, die wollten mich wohl am liebsten umbringen. Natürlich provozieren wir auch gern. Ich will mir nichts vorschreiben lassen. Das gilt auch fürs neue Album. Wir haben für "Dream Machine" erstmals alles selbst geschrieben und produziert.
"Boys Don't Cry" ist mein Lieblingssong, ein Stück über den Winter-Blues, den man so nur in Berlin bekommen kann. In den Achzigern hab ich in meiner Ofenheizungswohnung nach einer langen Nacht im SchwuZ das Nutella oft mit dem Fön auftauen müssen…
Das passt sehr gut. Der Song ist tatsächlich im Berliner Winter entstanden. Er war auch der erste, der für das Album aufgenommen wurde. Wir waren in einem Studio in Kreuzberg, es war eiskalt draußen, und es lag Schnee. "Boys Don't Cry" hat auf jeden Fall einen Berlin-Vibe. Ich war sehr von Berlin inspiriert. Es ist auch der einzige Song, der zwei deutsche Wörter hat.
Zwei? Mir ist nur das "She took me tanzen" aufgefallen…
Auch "Berlin" wird Deutsch ausgesprochen. Ich liebe Berlin, aber ich finde den kalten Winter auch total deprimierend. Der Song handelt ja davon, dass man in einem Loch ist, so richtig down ist, dann aber gerettet wird. Man kann sich selber retten oder – wie im Song – von jemandem gerettet werden. Das kann eine Begegnung mit einer Außerirdischen sein oder einer tollen Person, die die eigene Perspektive aufs Leben verändert. Das ist auch meine Beziehung zu Berlin. Die Stadt ist rough und manchmal deprimierend, aber ich finde die Leute total toll. Ich habe hier mittlerweile wahnsinnig viele Freunde.
Apropos Außerirdische. Nach der "Arcturian", die dich im Song zum Tanzen mitnahm, musste ich erstmal googeln….
Ich glaube ganz fest daran, dass es da draußen weiteres Leben gibt, dass wir nicht die einzigen Lebewesen im unendlichen Universum sind. Es kann auch gut sein, dass Aliens schon hier sind und wir das gar nicht wissen. Ich würde wirklich unheimlich gerne mal einem Alien begegnen.
Welches irdische Wesen hat dich denn vor dem Berliner Winter gerettet?
Meistens Freunde. Ich finde es schön, mit Menschen zusammen zu sein, die ein ganz großes Herz haben, die positiv eingestellt sind. Meine Freunde sind nicht berühmt, sondern total bunt gemischt. In L.A. ist es viel schwerer, Leute zu treffen, mit denen man sich wirklich verbindet – in Berlin ist das ganz anders.
Sind eure Fans eigentlich mit euch erwachsen geworden?
Das trifft für einige sicherlich zu. Es kommen viele Ende Zwanzig, Mitte Dreißig zu den Konzerten, die uns noch von den Anfängen kennen und auch die alten Stücke immer wieder hören wollen. Aber es kommen auch sehr viele neue hinzu, gerade im Ausland. Die kennen gar nicht unsere ersten Alben.
Weißt du, wo eure über 3,2 Millionen Facebook-Fans herkommen?
Nummer eins ist interessanterweise Mexiko, sehr viele aus den USA, natürlich aus Deutschland, aber auch aus Russland. Wir touren ja viel. Wir machen im November auch Zusatzermine in Italien, Frankreich und Deutschland. Im kommenden Jahr stehen USA und Lateinamerika auf dem Programm.
Als der Bundestag die Ehe für alle geöffnet hat, hast du auf Instagram eine Regenbogenfahne gepostet.
Die Ehe für alle war wirklich überfällig. Ich finde es erstaunlich, dass Amerika da vor Deutschland mit seiner modernen Kanzlerin war. Ich freue mich wirklich sehr.
Du hast Merkel auf Instagram sogar zum Geburtstag gratuliert…
Dafür habe ich allerdings die allerwenigsten Likes bekommen. Das Problem ist, dass die Deutschen ihre Politiker nicht supporten. In Amerika ist es völlig selbstverständlich, dass Prominente öffentlich bestimmte Politiker unterstützen. Die Deutschen sind immer so negativ, wir sollten viel mehr Unterstützung zeigen.
Aber warum gerade Merkel? Sie hat doch im Bundestag selbst gegen die Ehe für alle gestimmt…
Ich glaube, dass war eher ein politisches Ding. Tief drin sieht Merkel es sicherlich ein, dass das richtig ist. Ich halte sie für so smart, dass sie nicht wirklich gegen die Ehe für alle sein kann. Jetzt unter Trump blicken auch alle Demokraten auf Merkel als letzte Hoffnung.
Hat sich das Leben in L.A. unter Donald Trump verändert?
Mich hat es am Wahlabend total umgehauen, ich hatte nie damit gerechnet. Allerdings ist L.A. nicht Amerika. Hundertausende gingen nach der Wahl auf die Straße, ich selbst auch. Für uns war es eher ein Wake-up-Call, dass wir uns jetzt noch mehr engagieren müssen.
Nochmal zurück zum Album "Dream Machine". Vom Titel her habe ich viele Träume und Utopien erwartet, die Songs kommen aber alle ziemlich melancholisch daher.
Wir haben es "Dream Machine" genannt, weil es unser eigenes Traumalbum ist, weil wir, wie schon gesagt, alles selbst gemacht haben. Wir haben uns unseren eigenen Traum erfüllt. Wir haben das Album auch erst nach Fertigstellung den Plattenfirmen vorgestellt.
Wenn ihr jetzt schon eure Träume erfüllt habt, wie soll es dann mit Tokio Hotel weitergehen?
Ich hoffe mal, es wird so weitergehen wie bis jetzt. Wir waren noch nie an einem besseren seelischen Ort, ich habe mich musikalisch noch nie so wohl gefühlt. Natürlich habe ich noch viele Ideen. Ich hätte beispielsweise gerne eine eigene Modelinie. Ich möchte auch einen eigenen Nachtclub aufmachen.
Wo denn? In L.A. oder Berlin?
In L.A. hätte ich weniger Konkurrenz. Die brauchen mal einen europäischen Club, die wissen überhaupt nicht, wie man feiert. Das Nachtleben ist furchtbar in Amerika. So ein richtiger Berlin-Club wär mal was. Ich liebe etwa das "Kater Blau" oder das "Berghain". Von Freitag bis Dienstag feiern – das kennen die Amis gar nicht, dort ist um Zwei immer Feierabend.
Ihr selbst habt dieses Jahr zwölf Jahre "Durch den Monsun" gefeiert. Was macht Tokio Hotel im Jahr 2029, also in weiteren zwölf Jahren?
Wahrscheinlich haben wir ein neues Album und sind auf Tour. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mal aufhört. Vielleicht mit ein paar mehr Falten…
www.queer.de/detail.php?article_id=29929
Интервью: Tokio Hotel: Bill Kaulitz als Drag Queen
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Von Micha Schulze
Über ein halbes Jahr nach dem Erscheinen eures letzten Albums "Dream Machine" wurde jetzt ein Video zu "Boys Don't Cry" veröffentlicht, in dem du in Drag zu sehen bist. Sollen Fans und Medien jetzt nicht nur über deine sexuelle Orientierung, sondern auch über deine geschlechtliche Identität spekulieren?
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