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+ HQ фото отдельно
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Steffen Jänicke для SPIEGEL
www.steffen-jaenicke.de/people/
Spiegel (Германия, 23.01.2021)
»Ich war ein
zwischenmenschlicher
Sozialfall«
SPIEGEL-Gespräch Der Sänger Bill Kaulitz über seine Band Tokio Hotel
und den Preis des frühen Ruhms, das Verhältnis zu Schwägerin Heidi Klum
und seinen Status als queeres Vorbild
читать дальшеKaulitz, 31, gilt als Pünktlichkeitsfanatiker,
zum SPIEGEL-Gespräch im Gartenhäuschen des Berliner Ullstein Verlags erscheint
er 20 Minuten vor der vereinbarten Uhrzeit. Er trägt eine schwarze Stoffmaske, die
Haare kurz und blondiert. Es ist Mitte Dezember, Kaulitz ist einige Wochen zuvor
aus seiner Wahlheimat USA nach Deutschland gekommen, mit seinem Zwillingsbruder Tom und dessen Frau Heidi Klum, die
in Berlin für ihre TV-Show »Germany’s
Next Topmodel« vor der Kamera steht.
Kaulitz sagt, er sei nervös; es ist das erste
Mal, dass er mit Journalisten über seine
Autobiografie spricht, die im Februar
herauskommt*. Darin erzählt Kaulitz von
seiner Karriere mit der Band Tokio Hotel,
die 2005 mit dem Hit »Durch den Monsun«
begann.
SPIEGEL: Herr Kaulitz, als Teenager waren Sie ein Superstar. Sie jetteten um die
Welt, Champagnerpartys und Luxushotels
gehörten zu Ihrem Alltag, Ihre Entourage
las Ihnen jeden Wunsch von den Lippen
ab. Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie
die Kontrolle über Ihr Leben verloren
hatten?
Kaulitz: Als wir mit Tokio Hotel zum ersten Mal eine Pause einlegen wollten, ich
war da etwa 18. Wir hatten die Jahre davor
durchgearbeitet und wollten ins normale
Leben zurück, jenseits dieser Traumwelt.
Plötzlich wurde uns klar: Da ist nichts. Es
gibt kein anderes Leben mehr. Wir hatten
vergessen, es uns zu bewahren.
SPIEGEL: Die Hysterie um Sie und Ihren
Zwillingsbruder Tom war gigantisch.
Kaulitz: Wir versuchten, ihr zu entfliehen.
Tom und ich richteten uns eine eigene kleine Welt ein. Eine Villa im Hamburger Umland mit zwei Meter hohem, blickdichtem
Zaun, Kameras, Alarmanlage – ein kleines
Fort Knox. Die Probleme begannen aber
schon mit dem Umzug. Wenn dir 20, 30
Autos hinterherfahren, Journalisten, Fotografen, Fans, merkst du schnell: Es bringt
nichts umzuziehen. Die kommen überall
mit hin.
SPIEGEL: Was denken Sie heute über den
damaligen Fankult um Sie?
Kaulitz: Das war teilweise Terror. Es gab
krasse Belagerungen, Stalking-Attacken
gegen unsere Familien, unsere Mutter wurde bespuckt und getreten, Vermummte
lauerten uns auf, Leute fassten uns ins Gesicht und sonst wohin. Wenn ich doch mal
sagte, why not, lasst uns feiern, wir mieten
fünf Securitys, nehmen unsere Freunde
mit und gehen in einen Klub – dann saßen
wir dort, etwas abseits von den anderen
Gästen, und wurden gefilmt und fotogra-
fiert wie Tiere im Gehege. Ich bin damals
kaum noch vor die Tür, nicht mal, um mit
dem Hund Gassi zu gehen. Wenn ich allein
im Auto saß, ohne Bodyguard, bekam ich
Todesangst. Tom ist weiterhin raus, er
wollte sich sein Leben nicht diktieren
lassen. Ich war ein zwischenmenschlicher
Sozialfall.
SPIEGEL: Eine harte Selbstdiagnose.
Kaulitz: Manchmal gucke ich mir alte
Sachen an, wie dieses Arte-Video von
meinem ersten Treffen mit Wolfgang in
Paris …
SPIEGEL: … dem Modeschöpfer Wolfgang
Joop …
Kaulitz: … und denke: Was mache ich da?
Ich wurde im Maybach zu seinem Atelier
gefahren, ich trug einen langen, schweren
Mantel in Navy Blue, mit Hunderten dicken Knöpfen an den Ärmeln. Alles war
too much, und ich selbst war stocksteif und
unsouverän. Da war null Selbstbewusst
sein! Dabei war Wolfgang so herzlich und
knutschte mich zur Begrüßung auf die
Wangen.
SPIEGEL: Mitunter kamen Sie auch etwas
abgehoben rüber.
Kaulitz: Wirkte das so? Ich war enorm
unsicher geworden, wollte nur noch eine
Hülle sein, die nichts mehr preisgibt. Ich
wollte nicht mehr stattfinden. Zu dem Zeitpunkt hätte ich aufhören müssen. Stattdessen bin ich weiter meiner Karriere hinterhergerannt.
SPIEGEL: Hatten Sie Angst zu versagen?
Kaulitz: Natürlich. Alle in der Band hatten
diesen ständigen Druck.
SPIEGEL: Der SPIEGEL verglich Tokio Hotel 2006 mit den Beatles.
Kaulitz: Heute denke ich: geil. Zu der Zeit
aber prasselten so viele Schlagzeilen auf
uns ein.
SPIEGEL: An welche erinnern Sie sich?
Kaulitz: Eher an die negativen. »Der Absturz«, »Die Drogen-Nacht«, »Porno-Party« oder »Jetzt müssen sie zur Armee«.
SPIEGEL: Jetzt sind Sie 31 und bringen Ihre
Memoiren heraus. Üblicherweise tun Prominente das gegen Ende ihres Lebens.
Oder wenn sie der Meinung sind, der spannendste Teil des Lebens sei vorbei.
Kaulitz: Ich habe schon lange mit dem Gedanken gespielt, meine Autobiografie zu
schreiben. Allein aus der Sorge, ich könnte
vergessen, was alles passiert ist. Eine meiner größten Ängste ist die vor Demenz.
SPIEGEL: In Ihrem Alter?
Kaulitz: Mir ist schon so vieles abhandengekommen. Aber vielleicht ist es auch nur
ein gesunder Prozess, dass Erinnerungen
ausgemistet werden. Ich habe vor fünf Jahren mit dem Buch angefangen, es dann
aber wieder verworfen. Als wir im vergangenen Frühjahr wegen Corona unsere
Tour absagen mussten, war das die Gelegenheit: Ich konnte jeden Tag Wein saufen
und mein Leben aufschreiben.
SPIEGEL: Bei der Lektüre denkt man: was
für ein reiches Leben …
Kaulitz: Ja!
SPIEGEL: … aber auch: was für ein kaputtes Leben.
Kaulitz: Wahrscheinlich stimmt beides.
Aber ich will nicht klingen wie ein jammernder Robbie Williams. Popstars, die
sich andauernd über ihr Leben beschweren, finde ich anstrengend. Weil man natürlich denkt: Selber schuld, so haben sie
es sich ausgesucht.
SPIEGEL: Etliche Rock- und Popgrößen,
die in jungen Jahren berühmt wurden, sind
aufgrund ihres exzessiven Lebenswandels
nicht einmal 30 Jahre alt geworden. Etwa
Amy Winehouse, die Sie selbst bei einer
Preisverleihung kennengelernt haben.
Hatten Sie zwischendurch Angst, dass es
Ihnen auch so ergehen könnte?
Kaulitz: Nee, dafür war ich immer zu kontrolliert.
SPIEGEL: Na ja, Sie haben es schon auch
krachen lassen.
Kaulitz: Wir haben viel gefeiert, aber ich
habe nie einen Termin abgesagt. Ich habe
keinen einzigen Flug verpasst, egal wie kaputt und fertig ich war. Halb betrunken,
durchgenudelt und noch high von letzter
Nacht Interviews zu geben war eine Disziplin, in der ich Meister wurde. Manchmal dachte ich, ich kann nicht mehr. Aber
man lernt, das zu vertuschen.
SPIEGEL: Irgendwann hat Ihr Körper rebelliert.
Kaulitz: Auf meinen Stimmbändern hatten sich riesige Zysten gebildet, ich musste
operiert werden, Konzerte wurden ab -
gesagt. Ich empfand eine unglaubliche
Scham – vor den drei anderen Jungs, meinem Team, den Fans, der Presse, der Öffentlichkeit. Es war das erste Mal, dass ich
nichts überspielen konnte. Egal was für
ein tolles Outfit ich anhatte, egal wie gut
ich aussah: Es kam kein Ton mehr raus.
Da war dieses Versagen vor mir selbst.
SPIEGEL: Sie waren am Ende.
Kaulitz: Komplett. Am liebsten wäre ich
weggerannt, in ein Land, wo mich keiner
kennt. Es hat noch zwei Jahre gedauert,
bis wir aus Deutschland in die USA geflüchtet sind. Grund war der Einbruch von
Fans in unserem Haus, das jahrelang unser
einziger Rückzugsort gewesen war. Die
hatten Unterwäsche aus den Schränken
gerissen, Fotos von mir überall verteilt –
ich konnte da nicht eine Nacht mehr drin
schlafen.
SPIEGEL: Tokio Hotel galt einigen auch
als Inbegriff peinlicher Teenie-Musik. Es
war nicht nur übersteigerte Liebe, die Ihnen entgegenschlug.
Kaulitz: Ich hatte mir ein superdickes Fell
zugelegt. Aber als Leute mit Messern neben dem roten Teppich standen und es
Morddrohungen gab, hatte ich auch Angst.
Ich war erst 15 und brauchte Polizeischutz.
Bei einem Konzert in der Schweiz wurden
wir mit Dosen und Wackersteinen be -
worfen.
SPIEGEL: Wie steckt man das weg?
Kaulitz: Es ging, weil wir vier zusammen
waren. Wenn du allein als Freak beschimpft wirst, ist es schlimmer, als wenn
du mit drei anderen Freaks dastehst.
SPIEGEL: Wann haben Sie begriffen, wie
sehr manche Menschen Sie hassen?
Kaulitz: Schon als kleiner Junge wusste
ich, dass ich polarisiere und in anderen
krasse Gefühle auslöse. Ich war hauptsächlich mit Mädchen befreundet, trug Tutus
und wollte die hübscheste Prinzessin im
ganzen Land sein. Am ersten Schultag zog
ich mich so bunt an, dass die anderen Kinder auf mich zeigten und lachten. Klar, ich
wollte provozieren. Es hat mir Spaß gemacht. Und zugleich Angst.
SPIEGEL: Sie sind in Loitsche groß geworden, einer 600-Seelen-Gemeinde nördlich
von Magdeburg. Vielleicht kein guter Ort,
um anders zu sein?
Kaulitz: Tom und ich waren die Aliens.
Die Fahrten im Schulbus fühlten sich an
wie Krieg, wir wurden mit Stullen beworfen. Einmal im Freibad, da war ich zwölf
oder noch jünger, zogen mich sechs Jungs
in die Duschen. Sie stellten das Wasser an,
drückten meinen Hals zu, hielten meinen
Kopf unter den Strahl, einer griff mir zwischen die Beine, quetschte meine Hoden,
und sie beschimpften mich: »Solche wie
dich woll’n wa hier nicht haben, du Tunte!«
Das war schlimm, vor allem, weil Tom
nicht in der Nähe war. Solche Erlebnisse
bestärkten uns bestimmt in der Sicht, dass
die Welt der Feind ist und wir beide immer
nur Rücken an Rücken unterwegs sein
müssen, niemals irgendwo alleine hin -
dürfen. Wir hatten einander, um zu überleben.
SPIEGEL: Wenige Jahre später waren Sie
ein Star. Hat Ihnen das Genugtuung verschafft?
Kaulitz: Total! Das war für mich der größte Preis überhaupt, besser als jeder MTV
Award, Bambi oder Echo: an der Schule
aus dem Bus zu steigen nach diesen Sommerferien, in denen es losging mit Tokio
Hotel – und überall stehen TV-Teams, Fotografen und Fans, die mich empfangen.
Das war das geilste Fuck-you für diese
Leute, die uns drangsaliert hatten, auch für
die Lehrer, die uns das Leben zur Hölle gemacht und uns ausgelacht hatten. Am liebsten hätte ich mir eine Krone auf gesetzt!
Nach einer Woche sagte die Direktorin, wir
sollten nicht mehr in die Schule kommen,
der Rummel sei zu groß. Jackpot!
SPIEGEL: Parallel zu Ihrer Karriere veränderte sich auch Ihr Styling; vor allem Ihre
Frisur wuchs. Da war dieser Igelschnitt,
dann kam der seitliche Pony …
Kaulitz: … danach habe ich auftoupiert,
damit hätte ich David Bowie in dem Fantasyfilm »Die Reise ins Labyrinth« doubeln können. Am Ende hatte ich eine Mähne wie Cher in ihrem »If I Could Turn
Back Time«-Video, dazu schwarz geschminkte Augen und eine Stachelkette.
SPIEGEL: Wie hoch war der Anteil der
Haare an Ihrem Erfolg? Und wie hoch der
Ihrer Musik?
Kaulitz: Irgendwann ging es fast nur noch
um den Look. Die Musik hat kaum mehr
eine Rolle gespielt. Auch weil die Songs
teils nicht mithalten konnten. Leider. Wir
haben Stücke veröffentlicht, auf die wir
besser verzichtet hätten, wir haben zu vieles anderen Leuten überlassen, Produzenten und Songschreibern.
SPIEGEL: Vor einigen Jahren haben Sie Ihr
Äußeres verändert, wurden männlicher,
kantiger. Ging es darum, den alten Bill loszuwerden?
Kaulitz: Ich hatte keinen Bock mehr auf
den. Er hat mich gelangweilt, es gab keine
Möglichkeit mehr, mein Aussehen zu toppen. Immer längere Fingernägel wurden
aufgeklebt, immer wildere Extensions. Die
Zeit in der Maske stieg auf drei Stunden
an. Dieser Look war für mich auserzählt.
SPIEGEL: Wie lange brauchen Sie heute
im Bad?
Kaulitz: 20 Minuten, vielleicht 25. Der
neue Look hing auch zusammen mit dem
Umzug in die USA. Ich wollte privat sein,
ausbrechen, normal leben und lieben.
SPIEGEL: Sie sagen »ausbrechen«. Wenn
Sie von Ihrem Leben erzählen, klingen Sie
häufig wie jemand, der aus seinen Erlebnissen in einem Gefängnis berichtet.
Kaulitz: Ich muss mal kurz darüber nachdenken … doch, das stimmt. Schon den
Kindergarten habe ich als Knast empfun
den. Weil ich mich von jeher erwachsen
gefühlt habe, konnte ich nicht verstehen,
warum unsere Mutter uns irgendwo hingab, wo Kinder im selben Alter waren.
Kindertische bei Familienfeiern habe ich
als Beleidigung empfunden. Das war Zeit
totsitzen. Warten, bis das Leben losgeht.
SPIEGEL: Später waren es die Verträge mit
der Plattenfirma, von denen Sie sich eingeschränkt fühlten.
Kaulitz: Die haben meine Freiheit beschnitten. Ich war nicht so naiv zu glauben,
dass die Plattenbosse nur unser Bestes
wollten. Aber es war keine Frage, ob man
das unterschreibt oder nicht, das war nun
mal das Einlassticket. In den Verträgen hätte alles drinstehen können, von mir aus
auch: Bill wird jeden Abend um 20 Uhr in
eine Zelle eingeschlossen. Na ja – im Endeffekt war es ja so eine Art Zelle.
SPIEGEL: Ihr Buch ist auch eine Abrechnung geworden. Außer Mama und Tom
kommt kaum jemand gut weg.
Kaulitz: Ich empfinde das nicht so.
SPIEGEL: Journalisten sind für Sie »Presse-Geier«, den Anwalt der Produzenten
nennen Sie »schmierig«, Fans »picklige
Mädchen«.
Kaulitz: Hmmm.
SPIEGEL: Sind Sie ein Misanthrop?
Kaulitz: Ich glaube nicht. Und ich habe
mich verändert. In den vergangenen Jahren habe ich gelernt, auf Fans zuzugehen.
Nach Konzerten in Russland kamen Jungs
zu mir und fingen an zu weinen, sie trugen
hohe Schuhe und Make-up und sagten, ich
sei der Grund dafür, dass sie sich das trauen. Früher wäre das eiskalt an mir abgeprallt. Ich hätte ein Foto mit ihnen gemacht
und gehofft, dass sie schnell aufhören zu
heulen.
SPIEGEL: Sie sind zum Vorbild für die
LGBTQI-Community geworden, für junge
Schwule, Lesben oder queere Menschen?
Kaulitz: Ich würde sagen: Ja, und das ist
etwas, worauf ich sehr stolz bin. Hätte man
mich früher darauf angesprochen, wäre
ich zusammengezuckt und hätte gefragt:
Oh Gott, was heißt das jetzt für mich?
SPIEGEL: Den Blick anderer auf Sie beschreiben Sie so: »Der komische Typ mit
den geschminkten Augen, der Junge, der
aussieht wie ein Mädchen, dieses Etwas,
von dem man nicht wusste, ist der jetzt
schwul oder hetero – das ewige Thema.«
Warum ist Ihre Sexualität ein ewiges
Thema?
Kaulitz: Es war für die Leute immer extrem wichtig, mich einzusortieren. Vielleicht aus ihrer eigenen Unsicherheit heraus. Es ist bis heute meist eine der ersten
Fragen, die mir gestellt werden. Man
denkt, die Gesellschaft ist so weit gekommen, alle sind unglaublich offen, es spielt
keine Rolle, wen man liebt, wie man liebt.
Aber mir begegnet das ständig. Auch meine Bandkollegen werden oft gefragt: Sag
mal, auf was steht Bill eigentlich, Männer
oder Frauen?
SPIEGEL: Sie haben es öffentlich nie eindeutig beantwortet, auch jetzt nicht im
Buch. Soll das Ihr großes Geheimnis bleiben?
Kaulitz: Ich erzähle mein Leben so, wie
ich es gelebt habe. Wie ich es heute noch
lebe. Ich hatte aufregende Erfahrungen
mit Mädchen. Ich habe aber auch mal mit
meinem besten Freund und seiner Freundin in einer Dreiecksbeziehung gesteckt,
weil ich auf einmal in ihn verliebt war und
er in mich.
SPIEGEL: Seit Ihrem Durchbruch vor
15 Jahren ist viel passiert. »Ehe für alle«,
schwuler Gesundheitsminister, eine Internetkultur, in der sich queere Menschen
offen vernetzen. Hätten Sie es heute
leichter?
Kaulitz: Tausend Prozent. Heute wäre es
auch nicht mehr cool, uns auszubuhen und
Kinder auf der Bühne mit Sachen zu beschmeißen.
SPIEGEL: Sie haben mit Tokio Hotel im
Dezember einen neuen Song veröffentlicht und eine Tournee angekündigt. Warum haben Sie nicht einfach alles hinter
sich gelassen?
Kaulitz: Weil es für mich immer noch das
ist, was ich mit meinem Leben machen
will. Dafür bin ich hier. Ich war froh, Abstand zu kriegen, durchzuatmen. Aber ich
merke: Ich brauche das. Anfang des Jahres
sind wir in Mexiko aufgetreten. Es war, als
wäre die Zeit stehen geblieben. Die Leute
sind ausgeflippt vor Begeisterung. Wenn
das nicht mehr so wäre, fände ich es extrem beschissen. Klar denke ich darüber
nach, irgendwann mal in Italien auf dem
Land zu sitzen und die Eier zu schaukeln.
Aber ich glaube, ich bin noch nicht fertig.
SPIEGEL: Obwohl vieles so schmerzhaft
war?
Kaulitz: Ja.
SPIEGEL: Brauchen Sie den Schmerz?
Kaulitz: Ohne Schmerz kann man nichts
machen, was die Leute berührt. Tom sagt
manchmal: »Ich hoffe, du bleibst immer
ein bisschen unglücklich.«
SPIEGEL: Ist es das wirklich wert?
Kaulitz: Auf jeden Fall. Es war eben auch
ein geiles Leben, ist es immer noch. Auch
wenn es Alltagssituationen gibt, mit denen
ich bis heute überfordert bin: Einkäufe umtauschen. Sich beschweren, wenn einem
jemand den Platz wegnimmt. Für die meisten Menschen ist das kein Problem. Ich sitze regungslos da und warte, bis mein Tourmanager oder Tom etwas sagt. Auch wenn
keiner von beiden da ist.
SPIEGEL: Sie schreiben, Sie hätten in
Deutschland nie eine Heimat gefunden.
Wie fühlt es sich an, jetzt wieder hier zu
sein?
Kaulitz: Gut! Aber nur, weil ich weiß,
ich kann wieder weg. Ich war jetzt drei
Monate am Stück da, nächste Woche
fliege ich zurück nach Hause nach Los
Angeles.
SPIEGEL: Sie sind im Schlepptau Ihrer neuen Großfamilie nach Deutschland gekommen – Tom, seine Frau Heidi Klum samt
Kindern und Mutter Erna. Sie waren immer der berühmtere Zwilling – kennen
manche Sie inzwischen nur noch als Bruder von Heidi Klums Ehemann?
Kaulitz: In Amerika vielleicht. Da waren
wir nie so richtig Mainstream. In Europa
glaube ich das nicht.
SPIEGEL: Sind Sie neidisch, dass Heidi öfter auf dem »Gala«-Titelbild ist als Sie?
Kaulitz: Neid ist mir fremd. Ich bin froh,
dass wir als Familie unterwegs sind, ich
kann mir nichts Schöneres vorstellen. Dass
mir das so gefallen würde, hätte ich nie
gedacht. Familie, das waren bisher vor
allem Tom und ich. Jetzt verbringe ich
viel Zeit mit Heidis Kids, ich bin da integriert. Ich genieße es, angeheirateter Onkel zu sein.
SPIEGEL: Wollen Sie eine eigene Familie
gründen?
Kaulitz: Ich glaube sogar, es ist mein größter Wunsch. Bis heute habe ich kein Privatleben, ich bin der, den man auch samstags und sonntags um 20 Uhr anrufen
kann, wenn andere Family-Time haben
und ihr Handy ausmachen. Ich bin allzeit
bereit. Bill ist immer am Arbeiten.
SPIEGEL: Das klingt traurig.
Kaulitz: Freunde sagen auch oft ganz mitleidig: »Oooch, Mensch, Bill.« Andererseits bin ich niemand, der sich auf eine
Beziehung einlassen würde, nur um eine
Beziehung zu haben.
SPIEGEL: Sind Sie einsam?
Kaulitz: Ja. Schon. Ich bin wahnsinnig
romantisch und habe immer noch die
Vorstellung von der großen Liebe. Ich
weiß nur nicht, ob sie für mich vorgesehen ist.
SPIEGEL: Herr Kaulitz, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
+ (27.08.2022)
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